Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




„Ein sehr nordisches Ding“

Musiker und Künstler Andres Löo erzählt von der estnischen Szene

redaktionsbüro: Sebastian Fasthuber
Andres Löo :
- Sie sind Videokünstler, Schlagzeuger, Elektronikmusiker, DJ, Veranstalter, Vermittler – als was davon sehen Sie sich vor allem?
- Musiker. Dass ich auch ein Künstler sein könnte, habe ich erst vor ein paar Jahren festgestellt, als ich an der Akademie der Künste in Tallinn studiert habe. Musik begleitet mich schon die ganze Zeit. Als Kind habe ich Percussion, Vibraphon und Xylophon gelernt, später mit verschiedenen Bands experimentiert, jetzt bin ich in der Welt der elektronischen Musik gelandet und mache mein Soloprojekt „Ars Intel“. Ich finde, das ist eine ganz logische Entwicklung.
- Gibt es ein verbindendes Element zwischen all diesen Tätigkeiten?
- Für mich hängt sowieso alles zusammen, verbindendes Element nach außen ist die Website www.looming.org, die ich mit Freunden seit ein paar Jahren betreibe. Sie soll eine Plattform für unsere verschiedenen Tätigkeiten sein. „Looming“ ist Estnisch für „Schöpfung“.
- Es geht also um die großen Dinge …
- Ja, meine Musik ist irgendwie auch eine Suche nach einer Art Ur-Sound.
- Gibt es da auch eine Tradition, eine Art Folklore, auf die sich junge Musiker berufen?
- Es hat schon immer wieder eine Suche nach dem estnischen Sound gegeben. Chorsingen zum Beispiel ist eine große Sache in Estland. Ich möchte in meiner Musik künftig auch vermehrt mit Stimmen arbeiten. Grundsätzlich geht es in der estnischen Kunst oft um nationale Werte. Estland ist ein flaches Land und es ist kein reiches Land. Der Stolz speist sich also aus der langen Geschichte. Wahrscheinlich ist das auch ein sehr nordisches Ding.
- Das ist interessant. Estland wird im Westen doch überwiegend als Teil des europäischen Ostens gesehen.
- Wir hatten von überall her Einflüsse, aus dem Norden, aus dem Westen und natürlich aus Russland. Insgesamt glaube ich aber, dass Estland viel nordischer als zentral- oder osteuropäisch ist.
- Wo wir schon dabei sind: Was fällt Ihnen noch an falschen Vorurteilen ein?
- Dass wir viel Wodka trinken. Wenn ich hier in Wien, wo ich jetzt drei Monate gelebt habe, ausgegangen bin und mal Wodka statt Bier getrunken habe, dann wurde mir gleich auf die Schulter geklopft: „Klar, du trinkst sicher viel Wodka, du bist ja Russe.“ Wir haben in Estland auch eine Wodka-Tradition, aber die geht höchstens 200 oder 300 Jahre zurück. Wir sind viel näher an Finnland als an Russland. Auch sprachlich. Zwischen Esten und Finnen ist das so ähnlich wie zwischen Schweden und Norwegern. Irgendwie versteht man einander. Mit dem Ungarischen tue ich mich da schon schwerer.
- Wie sieht es mit den westlichen Aspekten aus?
- Tatsächlich ist Estland sehr westlich, Sie wären erstaunt. So ist es jedenfalls mir gegangen, als ich nach Wien gekommen bin. Das klingt jetzt komisch, aber Wien fühlt sich für mich wie eine größere Kopie von Tallinn an. Früher kamen viele aus Moskau nach Tallinn, um westliches Feeling zu inhalieren, wir hatten eine freiere Atmosphäre.
- Wie stand es vor der estnischen Unabhängigkeit 1991 um Kunstschaffende?
- Die mussten sich Nischen suchen. Viele Leute sind dann eben in die Animation und zum Film abgewandert. Estnische Cartoons der sechziger bis achtziger Jahre sind unglaublich gut, weil dort die besten Leute gearbeitet haben. Ab den Achtzigern konnte man in Tallinn und im Norden dann auch finnisches Fernsehen sehen, das brachte Informationen aus dem Westen rein.
- Wie ging die Umstellung auf Freiheit und den freien Markt vonstatten?
- Einige aus der älteren Generation haben die Umstellung leider nicht geschafft. Das passierte Leuten aus der Generation meiner Eltern, die jetzt zwischen 50 und 60 Jahre alt sind. Aber die Dinge müssen sich ändern. In den Achtzigern war die meiste Kunst aus Estland ehrlich gesagt ziemlich altmodisch, irgendwie auch kindisch. Natürlich gab es auch gute Leute, aber der Wechsel war sicher gut.
- Und die junge Generation? In welcher Erinnerung haben Sie zum Beispiel die ersten Partys in den neunziger Jahren?
- Für die junge Generation war es ein Wahnsinn. Alles hat sich sehr schnell entwickelt. Rückblickend werde ich das wohl vermissen, denn so schnell, wie anfangs alles passierte, und so enthusiastisch, wie die Leute auf Partys damals waren, so wird es nicht mehr werden. Vorher hatte es nur wenige Leute gegeben, die ins Ausland reisen und Platten mitbringen konnten. Die wurden dann schnell kopiert und machten die Runde. Allerdings im kleinen Kreis. Die ersten Partys waren auch mehr Zusammenkünfte von Freunden, die sich irgendwo trafen und sich diese unglaubliche neue Musik anhörten, die sie völlig umhaute, weil sie so anders war. So einen Enthusiasmus können die Leute im Westen wohl nicht verstehen, weil sie nie dieses Gefühl hatten. Dieses erste enthusiastische Gefühl, als man Indie-Rock oder frühe Dance-Platten zum allerersten Mal hörte, das lässt einen die Welt mit anderen Augen sehen. Deshalb sind auch die meisten Aktivisten aus der Anfangszeit auch heute noch dabei. Sie haben den Himmel gesehen, ihre Augen sind geöffnet, jetzt suchen sie nach einem neuen Himmel.
- Und wie sieht die finanzielle Situation von jungen Künstlern in Estland aus? Können Sie davon leben, was Sie tun?
- Die Situation ist grundsätzlich nicht so schlecht. Es gibt zwar wenig Geld zur Unterstützung, aber es lassen sich leicht Projekte starten. Leben kann ich von meinen Sachen nicht. Bis 25 habe ich es versucht, aber das war wie ein schlechter Überlebens-Trip. Dann habe ich ein paar Jahre in einer Werbeagentur gearbeitet. Heute versuche ich, diese Dinge zu kombinieren. Wenn ich Geld brauche, dann arbeite ich eben ein bisschen. Und wenn man bekannter wird und mehr reist, verdient man auch ein bisschen mehr an seinen Projekten. Auch wenn man oft im Nachhinein erfährt, dass man weniger bekommt als Kollegen aus dem Westen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Sebastian Fasthuber arbeitet als freier Musik- und Literaturkritiker („now!", „Falter", „Der Standard", „Spex").


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Jänner 2006
Link: REPORT online - Link: looming -